Moira Jurt

Grafikerin
Wohnt und arbeitet seit 2004 in der Industriestrasse 9.
Lebt mit ihren drei Kinder in der Industriestrasse 9.

Industriestrasse 9
Vorwort

Ich sitze in meinem Atelier, das Feuer im Holzofen knistert leise, ab und zu wird die Stille durch einen lauten Knall durchbrochen. Mein Nachbar rattert mit wehendem Haar auf der Strasse vor dem Haus auf und ab, er ist gerade daran ein altertümliches Motorradgespann zu reparieren. Ich schwelge in Erinnerungen, acht Jahre sind schon vergangen seit ich an der Industriestrasse 9 eingezogen bin. Meine Tochter hat ihr halbes Leben in diesem Haus verbracht, und belebt es jetzt mit ihren Teenagerfreundinnen. Meine zweite Tochter wurde in diesem Haus geboren.

Das 1903 erbaute Haus erinnert mit seiner graugrünen, verwitterten Fassade und den 15 Kaminen auf dem Dach an ein grosses Dampfschiff. Das Haus prägt das Strassenbild, gleichzeitig ist es für viele einfach ein altes, unscheinbares Haus, welches schon lange eingeschlafen ist. Viele PassantInnen wissen nicht, dass hier jemand wohnt. Doch geht man um das Haus herum und durch das Tor, öffnet sich der Blick in einen verwunschenen Garten.

Das Gewerbehaus wurde 1978 erstmals vermietet und von den neuen BewohnerInnen umgenutzt. Es entstanden Wohn‑ und Arbeitsbereiche. Schon immer war dieses Haus ein Ort der Veränderung, die BewohnerInnen durchbrachen Wände und kreierten zusätzliche Wohnfläche auf eigenwillige Art und Weise. Das Material für die Umbauten wurde in Brockenhäuser oder auf Baustellen ergattert. So verschmolz dieser Ort zu einem Sammelsurium aus Altem und aus Neuem. Der niedrige Mietzins ermöglichte es auch Leuten, die gerade ihre Ausbildung beendet hatten, sich ohne grossen Stress in der Arbeitswelt zurecht zu finden. Ich wünschte, es gäbe noch mehr Häuser wie dieses. Noch mehr Menschen, die einsehen, dass Zeit unser einzig wahrer Reichtum ist und dass es Oasen wie die Industriestrasse 9 braucht, um Menschenherzen zu nähren und sie nicht ständig dazu zu zwingen, mehr Geld zu verdienen. So hätten wir Raum, eigene Projekte zu verfolgen, Kunst zu machen, Veranstaltungen zu organisieren und so weiter.

Einige der spriessenden Ahornsamen im Garten blieben und wurden zu grossen Bäumen und ebenso blieben einige Menschen lange da und Andere zogen weiter, es war ein reges Kommen und Gehen. Die Geschichten und die Spuren der BewohnerInnen sind in diesem Haus lesbar.

2013, nach 35 jährigem Bestehen der Hausgemeinschaft, muss der alte Dampfer mit seiner 13‑köpfigen Belegschaft einer Überbauung weichen.

Der Warenlift des ehemaligen Käselagers hat sich ächzend in Gang gesetzt. Für heute Abend ist ein Konzert im Keller angesagt. Einige der BewohnerInnen verwandeln die Werkstatt im Keller in ein gemütliches Konzertlokal mit Girlanden und Discokugeln. In der Küche wird für Band und HelferInnen gekocht. Bald schon treffen die ersten BesucherInnen ein – wer weiss, wie viele es heute sein werden.

Die Industriestrasse 9 ist mehr als ein Haus, es bedeutet Kultur und bleibt ein einzigartiger Ort – Ein Ort, der leider bald nur noch in den Köpfen existieren wird.

Auf den folgenden Seiten öffnen sich die Fenster und Türen der Industriestrasse 9 und bieten einen Blick in das Leben, wie es während des vergangenen Jahres in diesem Haus pulsierte.

Moira Jurt

Obiger Text ist das Vorwort zum Fotoband
Industriestrasse 9 – Umfang 64 Seiten – 2011
Fotos: Franca Pedrazzetti
Zu beziehen unter www.moirajurt.ch